10. Lavendelduft, Musik und Gefühlschaos

10. Lavendelduft, Musik und Gefühlschaos

Im Laufe dieses Tages entscheidet sich, dass ich zumindest heute nicht mehr auf die Normalstation umziehen werde. Da bin ich ehrlich gesagt auch gar nicht traurig darüber, denn ich fühle mich noch immer hilflos und schwach und kann gerade mal halbwegs alleine stehen – vorausgesetzt, dass ich mich irgendwo festhalten kann.

Ich merke zwar durchaus, dass es mir ein wenig besser geht, aber es sind vergleichsweise kleine Schritte nach oben. Das Fieber sinkt langsam, das ist echt erfreulich und auch die Sauerstoffzugabe wurde in den vergangenen Tagen Stück für Stück verringert. Ich soll ja auch nach und nach vom zusätzlichen Sauerstoff entwöhnt werden. Anfangs sogar fast ein wenig schneller, als es mir lieb war. Besonders als ich zu vernehmen meinte, dass gesagt wurde: “… da reduzierst Du jetzt den Sauerstoff und drehst dafür die Raumluft mit auf…. das rauscht dann genau so laut in den Ohren, hat aber weniger Sauerstoff… ist dann quasi dazwischen….ist leichter für die Patienten und sie merken es nicht so, dass weniger Sauerstoff kommt…”
OH DOCH!!! Ich hab das sehr wohl gemerkt…deutlich sogar. Aber ich will ja auch die lästige Sauerstoffbrille irgendwann loswerden. Also habe ich es eben billigend in Kauf genommen, dass ich am Anfang das Gefühl hatte, irgendwie “weniger” Luft zu bekommen. Ist echt unangenehm, aber es war auch nicht so, dass ich das Gefühl gehabt hätte zu ersticken. Schnaufen war einfach wieder ein Stück anstrengender. Aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt. Was tut man nicht alles, um dem Ziel näher zu kommen. 

Der Tag läuft ansonsten auch nicht viel anders als seine Kollegen davor. Der Speiseplan wird abwechslungsreicher. Ich bekomme mittags zum ersten mal keinen Brei, sondern Nudeln. Das ist wirklich geschmacklich mal eine willkommene Abwechslung, was aber trotzdem nichts daran ändert, dass mein Magen noch immer der Meinung ist, dass da nicht all zu viel rein passt. Eigentlich schade um die schönen Penne mit Tomatensoße. Aber mehr als ein paar Gabeln voll passen einfach nicht in mich hinein. Naja, zumindest schmeckt es mir, auch wenn jeder Bissen, jede Bewegung, einfach alles noch immer unglaublich anstrengt, weil ich mich noch immer so schrecklich schwach und kraftlos fühle. Eine der Intensivschwestern kommt auf ein Pläuschchen vorbei. Eigentlich ist sie gerade zwar nicht für mich zuständig, aber sie wollte einfach mal nach mir sehen und schauen, wie es mir geht, nachdem sie mich während des Komas eine ganze Weile begleitet hat. Außerdem bin ich noch immer eine kleine aber schöne Besonderheit – eine der wenigen Patient/innen hier, die erfolgreich aus dem Koma zurückgeholt und langsam von der Beatmung entwöhnt werden konnten. Sie erzählt mir, dass sie mich betreut hat, als ich im Koma lag, unter anderem auch an dem Tag, an dem ich geweckt wurde. Daran war sie wohl nicht ganz unschuldig. Sie hat mich nämlich wohl gefragt, ob ich Musik hören möchte. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern – ich war ja zu dem Zeitpunkt noch nicht wach –  aber anscheinend habe ich so deutlich reagiert – grade dass ich nicht mit dem Tubus im Mund “Ja” gesagt habe -, dass sie beschlossen hat, dass ich bereit bin endgültig geweckt zu werden und alles nötige veranlasst hat – schon am Samstag, statt wie geplant Montag oder Dienstag. 

Es ist irgendwie ein wenig seltsam, wenn man erfährt, was man so im Dämmerschlaf getan hat, ohne es selbst mitzubekommen. Aber irgendwie bin ich froh, dass sie ein waches Auge auf mich geworfen hat und dafür gesorgt hat, dass ich früher geweckt wurde, als ursprünglich geplant war. Immerhin ist jeder Tag weniger im Koma ein Tag weniger, an dem die Muskeln sich wieder ein Stück weiter verabschieden und mindestens auch ein Tag näher am gesund sein. Ich stelle immer wieder fest, dass das Personal sich hier echt gut um mich kümmert, dass man sich auch Zeit nimmt, einfach mal einen Moment Gesellschaft zu leisten, auch wenn sicher noch viel Arbeit zu erledigen ist. Die menschliche Nähe in der ansonsten, wegen Corona ziemlich strengen Isolation tut wirklich gut. 

Ich telefoniere immer wieder, mit Freunden, Kollegen, meinen Eltern und natürlich mit meinem Mann. Reden geht ja schon wieder recht gut und wenn man schon so nicht wirklich etwas tun kann, ist das Telefon eine schöne Ablenkung, denn Besuch darf ich ja wegen Corona keinen empfangen. Besuch wäre zwar vermutlich auch sehr anstrengend, aber mal wieder meine Lieben sehen, live und zum Anfassen, das wäre schon schön. Mein Mann erzählt was die Katze so alles treibt, ansonsten ist ja auch zuhause nicht viel los. Quarantäne und Lockdown – da geht eben nicht viel. Seit ich wieder wach bin, kann er aber sicher wieder ruhiger schlafen, was auch mich beruhigt, auch wenn das nicht bedeutet, dass ich deswegen besser schlafen kann. Mein Puls ist immer noch viel zu schnell und sorgt dadurch dafür, dass ich einfach nicht wirklich zur Ruhe komme. Seit ich meinen Fitnesstracker wieder ums Handgelenk habe, sehe ich auch ohne Verrenkungen nach hinten zum Monitor, dass mein Puls schneller ist, als er das im Liegen sein sollte. Der Körper kämpft halt noch immer mit dem Virus und seinen Hinterlassenschaften und natürlich mit den Auswirkungen der Beatmung und des Komas, die auch ihre Spuren hinterlassen haben.

Dank der Berichte im Fernsehen realisiere ich so nach und nach, dass ich in den elf Tagen Koma eigentlich nicht so wirklich viel verpasst habe. Die Gesellschaft wurde nach und nach weiter “herunter gefahren”. Lockdown – alles was nicht nötig ist, hat zu. Nur das, was für den täglichen Bedarf gebraucht wird, ist noch offen. Alle sollen möglichst zuhause bleiben und sich mit anderen zu Treffen ist streng begrenzt. 

Sicherlich sinnvolle Maßnahmen, aber mir ist das im Grunde eh recht egal. Ich könnte gerade sowieso nirgends hin. Ich bin viel zu schwach für….eigentlich ALLES!!! 

Irgendwie ist die Erkenntnis, dass die Welt sich zwar weiter gedreht hat, aber ohne, dass ich groß etwas verpasst hätte, durchaus beruhigend. Ich merke immer wieder, wie ich grüble, was eigentlich wann geschehen ist, wie lange ich wirklich weg war, welcher Tag gerade ist und so weiter. Einerseits ist es echt völlig egal, aber auf der anderen Seite wurmt es mich irgendwie, dass ich so gar nicht weiß, was alles passiert ist. Da sind die Berichte über das gerade recht still stehende Weltgeschehen zumindest ein kleiner Trost, wenn auch die Umstände nicht wirklich beruhigend sind. Ansonsten schaue ich im Fernsehen gerade am liebsten Naturdokus. Da habe ich, wenn ich hinschaue, schöne Bilder und ansonsten haben die Sprecher da meist ganz angenehme Stimmen, die einen ein wenig einlullen. Irgendwelchen komplizierten Handlungen in Filmen kann mein Hirn auch im Augenblick gar nicht so recht folgen. Dass ich immer mal wieder einnicke, macht das Ganze dann auch nicht besser.

Heute bekomme ich von meiner Mutter ein Musikstück per Whatsapp geschickt. Eine schöne Version des Irischen Reisesegens. “Möge die Straße uns zusammenführen….und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand…” Das Stück ist nur Instrumental, aber in meinem Kopf läuft automatisch der Text mit. Ich mag dieses Lied wirklich sehr und gerade jetzt sind die Zeilen so unglaublich passend. Die Musik erfüllt meinen kleinen Raum und mein Herz. Es ist einfach nur schön, auch wenn ich schon wieder Rotz und Wasser heule. Ich denke an meine Familie und wie gerne ich jetzt jemanden hier hätte, einfach so, zum Reden, zum Händchen halten oder auch einfach zum schweigend nebeneinander sitzen und liegen – viel mehr könnte ich gerade ja sowieso nicht. 

Ich versinke kurz im Selbstmitleid und bedauere mich selbst, das ich hier liege, einsam und verlassen, dass ich vor Elend nichts tun kann, als einfach nur daliegen – und realistisch betrachtet ist selbst das eigentlich schon zu anstrengend. Doch im nächsten Moment bin ich unglaublich dankbar, dass ich überhaupt noch da bin. Ich weiß von den Ärzten, dass sie mir ohne Beatmung vielleicht noch ein oder zwei Tage zu leben gegeben hätten und auch mit der Beatmung standen die Chancen anfangs ja bestenfalls 50:50. 

Ich lausche der Musik des Reisesegens und auch meinem “Alles wird gut” und lasse die Tränen fließen. Gerade schaut keiner und es würde wohl auch keinen stören, da es aber auch keiner sieht, macht sich auch keiner Sorgen. Traurig-glücklich vor mich hin weinen, mich selbst bemitleiden und gleichzeitig gedanklich feiern, dass ich noch da bin, während ich der Musik lausche – ein Zustand, in dem ich mich die nächsten Tage immer mal wieder befinde. Ein wenig einsam und doch nicht allein, traurig und elend, aber trotzdem froh und voller Hoffnung, dass wirklich alles wieder gut wird. Es ist schwer die doch recht widersprüchlichen Gefühle in Worte zu fassen.

Da mein Zimmerchen nie ganz zu ist, bekomme ich auch mit, wie draußen auf dem Gang über die aktuell geltenden Hygienemaßnahmen gesprochen wird, darüber, dass manches Material möglichst lange benutzt werden soll. Die Visiere und Masken kann man ja in der UV-Kammer sterilisieren und damit auch deutlich länger verwenden. Denn das Material ist tatsächlich wohl nicht im Überfluss vorhanden. Die Hygienestandards hier in der Intensivstation sind natürlich auch recht hoch. Allein die Tatsache, dass mindestens eine frische Plastikschürze angezogen wird, sobald das Pflegepersonal sich den Patienten nähert und irgendwie potentiell die Gefahr besteht, mit Körperflüssigkeiten, welcher Art auch immer, in Berührung zu kommen, lässt einen ordentlichen Müllberg erahnen. Auch frische Handschuhe sind jedes Mal fällig. Natürlich ist das auch gut so. Aber wenn ich mir vorstelle, wie viele Schürzen, Kittel und Handschuhe da so im Laufe des Tages allein bei mir zusammenkommen….Brrrr das gibt einen ordentlichen Haufen. 

Jeden Tag geht auch eine gut vermummte Reinemache-Frau bei mir durch. Der Boden wird gewischt und alle Flächen, die ich irgendwie angefasst haben könnte. So ist jeden Tag alles wieder frisch und sauber. 

Immer wieder trinke ich Tee und Wasser und Wasser und Tee. Auf den Tipp einer Schwester hin entdecke ich für mich den “gelbe Früchte”-Tee. Der ist wirklich lecker und bekommt meinem Magen deutlich besser, als der normale Früchtetee. Außerdem schmeckt der sowohl im heißen als auch im kalten Wasser gut. So kann ich auch mal wieder “etwas kaltes” mit Geschmack trinken. Nur Wasser ist auf Dauer ja so gar nicht meins. 

Der Fernseher läuft immer wieder als Berieselung, doch teilweise ist mir selbst das zu anstrengend. Noch immer ist mein “Spaßprogramm” mir ein steter Begleiter, auch wenn mir so langsam dämmert, dass das, was ich da beim Augenschließen immer so sehe, eigentlich mein Kopfkino ist und kein hoch technologisches Meisterwerk. Aber die aufkeimende Erkenntnis ändert nichts an der Tatsache, dass ich nicht wirklich zur Ruhe komme. Auch die Nachtschwester stellt fest, dass ich offensichtlich nicht schlafen kann. Es ist die nette Schwester, die mir auch am Sonntag die Haare geflochten hat. Sie bietet mir Lavendelöl auf einem Tupfer an, zum aufs Kissen legen und dran schnuppern. Da ich den Duft von Lavendel durchaus mag und weiß, dass er beruhigend wirkt, finde ich das eine gute Idee. Wenig später liege ich auf der Seite, den Lavendelduft in der Nase und merke zum ersten Mal, dass ich ein wenig “herunter komme”. Zum ersten Mal, seit ich wieder wach bin, habe ich das Gefühl, dass ich ein wenig zur Ruhe komme. Ich habe tatsächlich den Eindruck, dass ich auch ein wenig geschlafen habe, nicht nur gedöst. Wirklich gut.

2 thoughts on “10. Lavendelduft, Musik und Gefühlschaos

  1. Was für ein Bericht! Ich habe alle Teile auf der Rückfahrt von der Rieneck gelesen und mir mehrmals im Zug die Augen wischen müssen, so sehr hat mich das mitgenommen.

    1. Ohje… wollte dich nicht zum Weinen bringen. Das Gute an der Sache ist, dass du das Ende der Geschichte ja gesehen hast, wie es auf der Rieneck herum gewuselt ist, getanzt und gesungen hat und sich des Lebens sehr erfreut hat 😉
      Die Fortsetzung kommt irgendwann, wenn ich Geist und Muse habe, das aufzuschreiben….Schreiben ist auch immer etwas aufwühlend. Ich durchlebe ja quasi alles nochmal.

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