9. Ablenkung, Musik und Gedanken

9. Ablenkung, Musik und Gedanken

Zwischendurch telefoniere ich wieder mit verschiedenen Leuten, mit meinem Mann, meiner Familie, Freunden, Bekannten… Telefonieren ist auch viel weniger anstrengend, als tippen, weil ich das Telefon einfach auf der Brust parke und nicht halten muss. 

Immer wieder schickt meine bessere Hälfte mir auch Fotos von unserer Katze. Das kleine weiße Fluffknäuel hat mich hoffentlich noch nicht ganz vergessen, so lange wie ich schon weg bin. Es tut gut zu wissen, dass daheim alles so weit in Ordnung ist und ich bin heilfroh, dass ich meinen Mann anscheinend nicht angesteckt habe. Ich erzähle, wie es mir geht, was hier so los ist. Aber so wirklich viel gibt es da halt auch nicht zu erzählen, weil ja jeder Tag irgendwie ziemlich gleich ist, wenn man so schwach ist, wie ich und sich am liebsten gar nicht bewegen möchte, weil alles so anstrengt. Aber ich will mich nicht beschweren. Immerhin lebe ich noch und kann noch jammern, das ist ja weit mehr, als andere von sich behaupten können.

Auch meine Nachrichten wollen weiter “bearbeitet” werden. Nach Whatsapp ist skype dran. Auch da gibt es einige Nachrichten zu beantworten, und vor allem, den Leuten, denen ich gesagt hatte, dass ich im Krankenhaus bin, Bescheid geben, dass ich “wieder da bin”.

Auch mein Onlinegame interessiert mich heute zum ersten Mal. Lebt mein Charakter noch?, oder habe ich vergessen, ihn in den Urlaubsmodus zu versetzen? Das werde ich jetzt nachsehen. Ich logge mich das erste Mal seit kurz vor dem Koma dort ein und stelle fest, dass ich tatsächlich noch den Urlaubsmodus aktiviert hatte – trotz Fieber und akutem Sauerstoffmangel im Blut. Mein Charakter hat also überlebt. Das ist doch erfreulich. Ich klicke ein wenig im Spiel herum. Mist! Die Bürgermeisterwahl ist in zwei Tagen und ich kann mich nicht mehr als Kandidatin aufstellen.

Da ist man fast 8 Jahre durchgehend “im Amt” und dann sorgt dieses doofe Virus dafür, dass dieser “Rekord” unterbrochen wird. Hätte ich doch mal gestern ins Spiel geschaut, dann wärs noch gegangen… Naja, es gibt wahrlich schlimmeres. Ich sehe auch, wer sich als Kandidat aufgestellt hat und freue mich, dass es der Charakter ist, der im Spiel der Sohn meines Charakters ist. So wie es aussieht, bleibt das Amt also zumindest in der “Familie”.

Überhaupt stelle ich fest, dass die Leute, die im Spiel in meinem Ort leben, dafür gesorgt haben, dass auch ohne die Anwesenheit der Bürgermeisterin der Laden läuft. Da bin ich echt froh. Sie haben mich sogar im Amt gelassen, obwohl ich wochenlang nicht da war. Normalerweise wird man da früher ersetzt. Aber die Spieler -das habe ich später erfahren – wollten mich “behalten” und mich auch meinen Rekord möglichst weiter steigern lassen… Es zeigt mir einmal mehr, dass da im Spiel eine tolle Gemeinschaft ist. Ich wusste ja schon vorher, dass ich dort zu vielen lieben Menschen Kontakt habe, aber wenn ich es nicht gewusst hätte, wäre es spätestens jetzt mehr als deutlich. 

Ich lege das Handy wieder weg und ruhe noch etwas aus. Das ist irgendwie aber auch nicht so einfach, weil ich immer irgendwie ungut liege. In leichter Seitenlage schläft mir der Fuß ein, wenn ich mich ganz nach rechts auf die Schulter drehe, tut die Schulter unangenehm weh und der Arm schläft ein, nach links will ich mich wegen dem Arterienkatheter und dem Venenzugang eh nicht drehen, außerdem dreht es mich sowieso immer, wenn ich weiter nach links schaue. Ich weiß also nie so recht, wie ich mich legen soll. Am besten ist es noch auf dem Rücken, aber auch da kann ich ja nicht die ganze Zeit liegen, weil ich mich sonst wund liege und das wäre dann auch nicht recht angenehm. So bewege ich mich also immer wieder ein wenig hin und her und stelle dabei aber jedes Mal fest, dass es unglaubliche Anstrengung kostet, auch nur kleine Bewegungen und Drehungen zu machen. 

Irgendwann klingelt mal wieder die Blase und wenig später ich bei der Schwester. Sie hilft mir auf den Nachtstuhl und nachdem ich erledigt habe, was zu erledigen war, beschließe ich, dass ich endlich sehen will, was meine lieben Kollegen mir da eigentlich geschickt haben. Wenn ich schon mal aus dem Bett draußen bin, kann ich auch gleich ein wenig länger dort bleiben.

Nachdem die Schwester also den Sitz auf dem Nachtstuhl abgelegt hat und ich wieder auf diesem geplumpst bin, lasse ich ich mir den Ordner reichen und fange an zu lesen und zu blättern.

Es ist einfach der HAMMER!!! Jede Kollegin, jeder Kollege, die Mittags- und Hausaufgabenbetreuung und sogar einige der Ehemaligen Kolleginnen haben mir jeder eine oder auch mehrere Seiten gestaltet: Gute Wünsche, liebe Gedanken, nette Worte, Segenswünsche, Sachen zum Lachen, ernstes, lustiges…
Es ist ein bunter Reigen aus alledem, gepaart mit teils selbst gemalten Bildern, Fotos und Collagen. Sogar ein eigenes Musikstück wurde mir von einer Kollegin und ihrem Mann gewidmet. Die CD ist mit auf der Seite drauf, aber auch der Vermerk, dass man das Lied auch als MP3 anfordern kann, was ich natürlich sofort tue. 

Ich sitze da und blättere durch den Ordner, Seite für Seite und bin einfach nur gerührt und dankbar. Es ist so toll, da geht einem das Herz auf. Es bleibt auch nicht aus, dass mir irgendwann die Augen überlaufen und ich heulend da sitze, immer darauf bedacht, ja nichts voll zu tropfen. Dieser Ordner ist ein wertvoller Schatz! MEIN SCHATZ!

Als eine Schwester kurz reinschaut, ob bei mir alles in Ordnung ist, fragt sie gleich besorgt, ob alles in Ordnung ist, weil sie natürlich meine verheulten Augen bemerkt. Aber ich strahle sie heulend an und meine nur, dass das so schön ist und zeige ihr den Ordner. Das war wirklich eine tolle Idee. Besuchen dürfen sie mich ja nicht, aber trotzdem sind sie alle irgendwie da. 

Es dauert nicht lange und ich bekomme eine Nachricht, mit “meinem” Musikstück aufs Handy. Es trägt, wie auf der für mich gestalteten Seite angekündigt, den Titel “Alles wird gut” 

( https://www.youtube.com/watch?v=TbomkUrpAiM ). Ich stelle das Handy etwas lauter und lasse die Musik erklingen. Gott ist das ein tolles Stück und speziell mir gewidmet, für mich geschrieben. Jetzt gibt es kein Halten mehr und ich heule wirklich Rotz und Wasser. Es ist einfach nur schön… 

…schön zu wissen, dass es da draußen so liebe Menschen gibt, die so sehr an mich 

    denken.

… schön diese Musik zu hören. <3

… schön, noch da zu sein, trotz dieser schweren Krankheit.

… schön zu wissen “Alles wird gut” – irgendwann und irgendwie wird es das wieder! Ganz 

    bestimmt!

Es ist einer dieser seltenen Momente, wo man zwar total am Boden ist, aber trotzdem leicht wie eine Feder schwebt, vor Freude und weil man von Liebe getragen ist. 

Das Stück läuft den Rest des Tages – und natürlich auch in den Tagen darauf – nicht nur ein oder zweimal. Auch wenn ich in 9 von 10 Fällen dann anfange zu heulen, tut es einfach nur gut, das Stück zu hören und mir selbst immer wieder zu sagen: “Ja, alles wird gut!” Das ist Balsam für die Seele!

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