5. Dornröschen erwacht

5. Dornröschen erwacht


Bevor ich weiter erzähle muss ich etwas erklären. Auf den nächsten Seiten vermischen sich Realität und Fantasie. Nach einem künstlichen Koma, das bekanntermaßen durch Narkosemittel herbeigeführt wird, kann es vorkommen, dass ein Patient halluziniert und Dinge sieht und erlebt, die für ihn völlig real erscheinen und vollkommen echt wirken, faktisch aber nicht passiert sind. Die Verabreichung von Morphinen sorgt dabei übrigens nicht unbedingt dafür, dass das besser wird. 

Im folgenden Teil werden sich deshalb Fantasie und Realität vermischen und ich selbst kann auch heute noch nicht bei allem zu 100% unterscheiden, was echt war und was ich mir eingebildet habe. Da müsste ich wohl mal im Krankenhaus nachfragen. Warum soll es Ihnen/Dir also besser gehen? ;-P

Tag elf, ich liege im Bett und öffne langsam die Augen. Eine freundliche, weibliche Stimme von schräg rechts hinter mir meint: “Nicht erschrecken, wenn sie nach hinten schauen. Sie wissen ja wir schauen zur Zeit alle wie Aliens aus, schön, dass Sie wieder wach sind. Wissen sie, wie lange sie geschlafen haben? Heute ist Samstag der 18. April.”
Ähm, nein ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, woher auch? Kurz fange ich an zu rechnen. Wann haben die mich schlafen gelegt? Das war der… – Nein viel zu kompliziert. Ich kann nicht klar denken. Aber offensichtlich bin ich wieder wach. Das ist doch zumindest schon mal positiv. Eine kurze Bestandsaufnahme durch den Körper bringt das ein oder andere an Neuigkeiten. 

Ich fühle mich schwach, unendlich schwach. Nicht, dass ich mich vor dem Koma sonderlich kräftig gefühlt hätte, aber jetzt fühle ich mich einfach völlig matt und leer. Es ist, als hätte jemand den Stecker gezogen und mir so den Strom abgedreht. Aber immerhin bin ich jetzt wach.
Es scheint alles noch da zu sein, wo es sein soll, doch ich habe das Gefühl ich schaffe es nicht einmal, einen Arm oder ein Bein zu heben. Aber gerade jetzt muss das ja auch nicht sein. Schmerzen habe ich keine – das ist doch zumindest mal erfreulich. Naja, der Hals ist etwas rau, aber das ist sicherlich gerade nicht ungewöhnlich. 

Statt meines Schlafanzuges trage ich eines der schicken weiß-blau gemusterten OP-Hemdchen. Irgendwer hat mich offensichtlich umgezogen.
Die Verkabelung ist…. anders. EKG und Sauerstoffsättigung sind noch da, wo ich sie gewohnt bin, aber der linke Arm ist nicht mehr voller Schläuche, nur am Oberarm sind einige fixiert, die aber nach weiter unten führen, bzw nach oben, wo der Druckbeutel hängt den ich schon von vorher vom Arterienkatheter kenne. Dafür habe ich offensichtlich jetzt einen Zugang links am Hals und unten in der Leiste scheint auch etwas zu sein. Da führen nämlich die Schläuche vom Arm hin. Falsch verkabelt? Na wohl eher nicht. Aber was da jetzt was ist, ist mir im Augenblick ziemlich egal. Ein Blasenkatheter rundet den Kabelsalat ab. Na zumindest vereinfacht letzterer das Wasser lassen. Geht ja dann quasi erst einmal von selbst. Aufstehen, um derlei Dinge zu erledigen, könnte ich gerade sowieso nicht.

Ich fühle mich völlig platt, aber zumindest tut die Lunge nicht mehr so weh. Das ist echt eine Verbesserung, oder liegt es nur an den Medikamenten, die ich sicherlich reichlich in mir habe?

Die freundliche Stimme reißt mich aus meiner Bestandsaufnahme. Die Schwester fragt, wie ich mich fühle, ob ich weiß, wer ich bin, dass ich geschlafen habe und wo ich herkomme. Ich antworte, kraftlos, leise, aber offensichtlich mit den richtigen Antworten. Hausaufgaben im Schlaf erledigt.

Sie erzählt mir, dass ich fast zwei Wochen an der Beatmung war und freut sich sichtlich, dass ich jetzt wieder wach bin. Das meine ich zumindest sogar trotz Maske und Gesichtsvisier erkennen zu können. 

Ich blicke mich ein wenig im Raum um. Das ist nicht mehr der Raum, in dem ich vorher lag. Offensichtlich bin ich umgezogen. Eine Faltwand, die gerade bei Seite geschoben ist, gibt den Blick auf eine Empfangstheke frei und auf eine große, rote Digitalanzeige an der Wand. Ist das seine Uhr? So richtig kann ich das nicht erkennen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass alles etwas Unscharf ist und ich leicht doppelt sehe – zumindest Die Zahlen auf der Uhr. Ansonsten schaut alles eigentlich relativ normal aus. Die Schwester fragt mich, wenig später auch, wie es mit dem Sehen ist. Ich hatte wohl eine Blutung im Auge, sowas kann schon mal vorkommen, geht normalerweise aber schnell wieder zurück. Ich bekomme mehrmals täglich Salbe ins Auge – die übrigens dafür sorgt, dass ich eine Weile alles gelb sehe – , damit es sich schnell erholt. Aber es kann eben sein, dass ich grade nicht richtig sehe, wie ich es gewohnt bin. 

Ja das kann ich bestätigen. Ich kann sehen, aber manches ist irgendwie seltsam. Jedoch habe ich nicht die Energie, mir darüber groß Gedanken zu machen. Die Schwester geht nach einer Weile. Ich soll mich ausruhen. Für den Augenblick ist so weit alles in Ordnung, zumindest den Umständen entsprechend. Kein Grund zur Sorge also. Ausruhen klingt wirklich nach einem guten Plan. Ich schließe die Augen und ruhe… und schlafe.

Ich fühle mich so unglaublich schwach als ich wieder aufwache, dennoch ist einer meiner ersten Gedanken, ‘Ich muss meinen Mann anrufen, der muss doch wissen, dass ich wieder da bin!!!’ Mein Handy hat in der Koma-Zeit sicher keiner geladen. Der Akku wird wohl leer sein. Ausgeschaltet hab ich es ja auch nicht. Hab ich den Charakter in meinem online-Game, das ich seit Jahren spiele, eigentlich noch in den Urlaubsmodus versetzt, oder ist der mittlerweile verhungert? Naja wäre auch nicht so tragisch. DEN kann man zumindest recht problemlos wiederbeleben.

Bei der nächsten Gelegenheit bitte ich eine Schwester, die nach meinen Infusionen schaut, mir mein Handy zu geben, oder es zumindest zum Laden an die Steckdose zu hängen. Im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass ich die Kraft hätte zu telefonieren, aber vielleicht ja nachher, wenn ich mich ein wenig erholt habe – Erholt vom Schlafen. Ich schließe die Augen und schlafe wieder ein.

Zwischendurch denke ich, dass die Matratze sich bewegt. Ein High-tec Bett, mit Wasser oder Gel gefüllt, in dem sich innen Rollen immer wieder bewegen, damit man sich nicht wund liegt. Ich sehe sogar, wie es an einem Monitor gesteuert wird. Bunte Farben auf dem Monitor zeigen das gerade laufende “Programm”. Ein Massage-Modus wäre nicht schlecht, denke ich mir, aber der ist wohl im Augenblick eher nicht aktiv. Der Raum in dem das alles passiert, sieht irgendwie anders aus… bin ich umgezogen? Oder war es nur ein Traum?

Als ich wieder aufwache ist wieder eine Schwester da und kümmert sich um mich. Sie plaudert mit mir. Ich hätte erzählt, dass ich spinne, also mit Wolle. Wie ich das denn mache, will sie wissen. 

Ich habe zwar keine Ahnung, wann ich ihr das Erzählt habe, aber offensichtlich weiß sie einige Dinge über mich. Auch wenn ich müde bin und mich total schwach fühle, erzähle ich bereitwillig vom Wolle Spinnen und Wolle Kämmen. Selbst jetzt, während ich mich hundeelend fühle, bringt mein Hobby mir ein kleines Leuchten in die Augen. Auch sie fragt mich, wo ich wohne, was ich arbeite und wo. 

Ich freue mich über so viel Anteilnahme und antworte gerne. Ich habe das meiste zwar irgendwie ja vorhin schon erzählt, aber das war bestimmt eine andere Schwester. Man sieht ja nicht wer unter der Maske steckt. Außerdem finde ich die Unterhaltung sehr angenehm. Es lenkt ein wenig davon ab, dass ich das Gefühl habe, dass jede noch so kleine Bewegung unglaubliche Anstrengung kostet. Dass die Schwester wohl vor allem versucht, herauszufinden, wie es um den Zustand in meinem Gedächtnis und meinem Kopf aussieht, kommt mir erst später in den Sinn.

Ich frage, ob mein Handy mittlerweile geladen ist. Erfreut stelle ich fest, dass der Akku voll ist. Ich habe wohl länger geschlafen, als ich gedacht hatte. Aber ich habe auch nicht auf die Uhr geschaut. Warum auch? Außerdem habe ich die gerade gar nicht mehr um – all meinen anderen Schmuck auch nicht. Da hat jemand aber gründlich “aufgeräumt”. Wird alles wohl nicht weit sein und grade brauche ich ja nichts davon, wobei die Armbanduhr schon nicht schlecht wäre. Wie spät ist es eigentlich und welcher Tag war heute nochmal? Meine Uhr wüsste das, oder das Handy, wenn es denn an wäre….

Die Schwester erkundigt sich, ob ich noch etwas brauche, aber grade habe ich was ich will. Das Handy ist voll, jetzt muss ich es nur einschalten und aktivieren. Eigentlich kein Problem – eigentlich!!!

Ich schaffe es nach einigem Herumspielen, endlich den richtigen Knopf zu drücken. Die Feinmotorik in den Fingern will noch nicht wirklich so wie ich will und warum, verdammt nochmal, ist das Handy so schwer? 

Es kostet viel Kraft, es zu halten und noch viel mehr Kraft, es zu bedienen. 

Ich scheitere bereits an der Pin und am Entsperrbildschirm. Nicht dass ich etwas davon vergessen hätte, aber die Finger wollen einfach nicht die richtigen Flächen treffen und schon gar nicht die richtigen Zahlen. Alleine schaffe ich das nicht. Ich greife nach dem Kästchen mit dem Klingelknopf. ICH WILL MIT MEINEM MANN TELEFONIEREN! JETZT! Und nur die Sicherheitsvorkehrungen im Handy stehen gerade zwischen mir und dem Telefonat.
Ich drücke auf den Alarmknopf, der die Schwester rufen soll. Irgendwie leuchtet der aber nicht auf, was er vorher bei den Klingelkästchen immer getan hat. Es fühlt sich auch nicht an als würde der Knopf sich bewegen. Bei genauerem hinsehen merke ich, dass ich nicht den großen, roten Knopf drücke, sondern die graue Fläche darüber. Ich habe offensichtlich echt einen Knick in der Optik.
Nach dieser Erkenntnis finde ich dann doch den großen, roten Knopf, den man eigentlich gar nicht verfehlen kann und siehe da, er leuchtet. Wenig später kommt eine Schwester und hilft mir bei der Eingabe der Pin. Den Rest schafft mein Fingerabdruck auf dem Sensor. 

Ich bin drin! – das war aber gar nicht einfach!

Ich sehe, dass Whatsapp über 300 neue Nachrichten für mich hat. Ja holla, was ist denn da los? Aber lesen kann ich die jetzt nicht. Ich bin völlig KO.

Ich bedanke mich für die Hilfe und lege das Handy bei Seite. Die Aktivierung hat so viel Kraft gekostet, dass ich eine Pause brauche. 

Eine Weile später ist es so weit. Noch immer etwas zittrig und unkoordiniert schaffe ich es, das Handy zu entsperren und beginne im Telefonbuch nach der meiner Festnetznummer zu scrollen. Auswendig weiß ich die ja schon nicht, wenn ich wach und fit bin, also jetzt erst recht nicht. Schließlich habe ich den Eintrag im Telefonbuch gefunden und drücke auf den Hörer.

Es tutet. Ich schalte auf Lautsprecher. Ich bin ja alleine hier im Raum und außerdem muss ich das Handy dann nicht ans Ohr halten, was furchtbar anstrengend wäre. Ich lege es mir auf die Brust. Das ist viel besser! Man glaubt nicht, wie schwer so ein Smartphone sein kann.
Am anderen Ende der Leitung nimmt jemand ab. Ich höre die vertraute Stimme meines Mannes, der etwas ungläubig fragt, ob ich es sei? Ja, ich bin es. Drum rufe ich ja mit meinem Handy an. Ich bin wieder da. 

Ich fange also an zu reden, so laut ich eben kann, was zugegebenermaßen nicht so wirklich laut ist. Die Sauerstoffmaske macht das Ganze nicht besser. Mein Mann versteht kaum die Hälfte von dem, was ich sage. Aber er weiß, dass ich wach bin und ich kann selbst am Telefon spüren, wie einige Tonnen Last von seinem Herzen purzeln. Ich bitte ihn, meine Eltern anzurufen. Das hat er sogar verstanden. Gut so, denn noch einen Anruf schaffe ich nicht. Ich verabschiede mich und lege wieder auf. Mensch war das anstrengend! 

Aber ich bin froh, dass mein Mann weiß, dass ich wieder wach bin. Er muss sich also keine Sorgen mehr machen und meine Eltern und der Rest der Familie werden auch bald erleichtert sein. Mit diesem beruhigenden Gefühl lege ich das Handy bei Seite, schließe die Augen und schlafe quasi sofort wieder ein.

Als ich wieder aufwache höre ich die Gespräche auf dem Gang – es klingt so als würde über einen Patienten gesprochen und über dessen Zustand, aber im Moment interessiert mich das nicht wirklich. Ich bin voll und ganz damit beschäftigt, einfach nur zu existieren. Da liegen, einatmen, ausatmen, wach sein – damit bin ich vollstens beschäftigt.

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